Die Frage, ob Schulen zu den großen „Treibern der COVID-19-Pandemie“ zählen oder nicht, wird unter Wissenschafter*innen nach wie vor diskutiert. Eine länderübergreifende Studie (Pre-Print) der ETH Zürich1 stellt Schulschließungen als ein effektives Instrument zur Reduktion der Mobilität und somit von COVID-19 Infektionen dar. Die UNICEF jedoch kritisiert den Trend zu erneuten Schulschließungen2. Österreichweit wird Home-Schooling und Distance-Learning seit Herbst 2020 je nach Schulstufe in unterschiedlichem Ausmaß praktiziert.
Doch welche Auswirkungen haben Schulschließungen auf das psychische Wohlbefinden von Kindern und Jugendlichen? Wie geht es den Schüler*innen im Home-Schooling? Was sagen Pädagog*innen zum Distance-Learning? Wir wollen Ihnen einen Überblick über die Ergebnisse zur Studie „Lernen unter COVID-19-Bedingungen“3 eines Forschungsteams der Fakultät für Psychologie der Universität Wien geben. Achtung, es folgen viele Zahlen…
Aktuelle Lernsituation bei den Schüler*innen daheim
An der vierten Befragung im Schulbereich nahmen 13.025 Schüler*innen zwischen zehn und 21 Jahren teil. Der Fragebogen stand vom 23. November bis 6. Dezember 2020 online zur Verfügung. Da z.B. Schüler*innen ohne entsprechende technische Möglichkeiten an der Befragung nicht teilnehmen konnten, ist die Stichprobe nicht repräsentativ. Es ist davon auszugehen, dass Risikogruppen eher unterschätzt werden.
79,7 % der Schüler*innen lernten zum Befragungszeitpunkt ausschließlich daheim, 11 % gaben an, die Schule einmal pro Woche zu besuchen, 5,7 % gingen täglich zur Schule (3,6 % sind zwei bis vier Tage pro Woche an der Schule).
Die Schüler*innen gaben an, sich durchschnittlich 7,1 Stunden pro Tag mit schulischem Inhalt zu befassen – beim ersten Home-Schooling im Frühjahr waren es im Durchschnitt fünf Stunden täglich. Ungefähr die Hälfte (49,5%) habe täglich sogar acht Stunden oder mehr mit schulischen Aktivitäten verbracht. Je älter die Schüler*innen, desto mehr Zeit wendeten sie für schulische Belange auf.
98,7 % der Kinder und Jugendlichen hatten einen Computer, Laptop oder Tablet für schulische Aufgaben zur Verfügung. 26,1 % der Schüler*innen bekamen keine Unterstützung beim Lernen daheim. Schüler*innen, die Lern-Unterstützung in der Familie erhielten, wurden hauptsächlich von den Müttern unterstützt (70,9 %).
Bezogen auf die Kommunikation mit den Lehrer*innen, gab mehr als die Hälfte der Schüler*innen an, dass sie sich sehr gut oder gut unterstützt fühlten (52,1 %). 35,6 % der Schüler*innen fühlten sich mittelmäßig gut unterstützt und 12,3 % gaben an, sich schlecht oder sehr schlecht unterstützt zu fühlen (9,5% bzw. 2,8 %). Durchschnittlich waren Schüler*innen circa vier Stunden pro Tag im direkten Kontakt mit ihren Lehrpersonen (die Bandbreite reichte von ein bis zwei Stunden bis mehr als sieben Stunden pro Tag).
Wie steht es um das Wohlbefinden der Schüler*innen?
Je älter die befragten Schüler*innen waren, desto eher berichteten sie von Verschlechterungen. Das betraf die gesunkene Lernmotivation (Motivation und Energie für die Erledigung der Schulaufgaben), den gestiegenen Leistungsdruck und Belastungen durch zu viele Stunden vor dem Computer oder auch die Ungewissheit, wann sie wieder in die Schule zurückkehren dürfen.
44 % der Schüler*innen stimmten der Aussage „ich fühle mich gut“ zu („stimme genau zu“: 22,8 %, „stimme ziemlich zu“: 31,2 %). Für 22,9 % der Schüler*innen stimmte die Aussage etwas, wohingegen 23,1 % der Aussage eher nicht und nicht zustimmten (15 % bzw. 8,1 %). Vor allem ältere Befragte gaben häufig niedrigeres Wohlbefinden bzw. auch eine Verschlechterung des Wohlbefindens im Vergleich zum Lockdown im Frühjahr an.
Jugendliche berichteten eher von Verbesserungen des Wohlbefindens, wenn sie sich als erfolgreich beim Lernen wahrnahmen, wenn sie Gestaltungsspielraum beim Lernen erlebten und wenn sich der Kontakt mit ihnen wichtigen Personen verbessert hatte. Es zeigte sich, dass Oberstufenschüler*innen in all diesen Bereichen deutlich häufiger Verschlechterungen bemerkten als Pflichtschüler*innen.
Der Ausblick auf die Zukunft
Über den schulischen Leistungsdruck machten sich Schüler*innen am meisten Gedanken. Besonders Oberstufenschüler*innen berichteten von Überforderung, Sorgen und Ängsten, den schulischen Anforderungen nicht zu genügen. Außerdem belastete viele Schüler*innen die Ungewissheit hinsichtlich schulischer Belange (z.B. wie die Matura aussehen werde) bzw. die Ungewissheit hinsichtlich einer Rückkehr zur Normalität. Weiters wünschten sich die Befragten, ihre Freund*innen und Verwandten ohne Einschränkungen treffen zu können.
Rückmeldungen der Lehrer*innenschaft
Ein Großteil der befragten Lehrer*innen ist nach eigenen Angaben gut mit dem Unterricht von zu Hause aus zurechtgekommen. Dies traf umso mehr zu, je besser der Unterricht mit den eigenen technischen Möglichkeiten umsetzbar war. 84,7 % der Lehrpersonen gaben an, dass sie zuversichtlich wären, den Schüler*innen die relevanten Stoffinhalte vermitteln zu können. Aber nur 7 % waren zuversichtlich, Schüler*innen mit Problemen den Stoff gut vermitteln zu können.
Ein Großteil der Pädagog*innen gab an, dass die persönlichen Beziehungen zu den Schüler*innen während des Distance-Learnings überwiegend positiv waren. Positiv erwähnt wurde von den Lehrer*innen auch, dass viele Schüler*innen deutlich selbständiger wurden und dass sich die Zusammenarbeit mit den Eltern verbessert hätte. Schwierigkeiten hatten die Lehrpersonen damit, einzuschätzen, wie viele Aufgaben Schüler*innen daheim schaffen würden. Sie sahen sich mit Problemen konfrontiert, lernschwache Schüler*innen bzw. Schüler*innen mit schlechteren technischen Möglichkeiten nicht ausreichend unterstützen zu können.
Aus dem Blickwinkel der Suchtprävention
Vorneweg wollen wir die erbrachten Leistungen durch Kinder und Jugendliche, durch Lehrer*innen sowie durch Eltern wertschätzen: Alle Beteiligten leisten in der aktuellen Corona-Situation sehr viel! Von Doppel- oder Dreifachbelastung aufgrund von Home-Schooling, Home-Office und Haushalt bis zur Erarbeitung von Inhalten auf virtueller Basis oder das Zusammenleben auf engem Raum – jede*r Einzelne von uns ist gefordert, die Herausforderungen bestmöglich zu bewältigen.
Im Kontext von Schule liegt der Fokus derzeit auf der Vermittlung von zentralen Lerninhalten. Das ist verständlich und nachvollziehbar. Es bedeutet aber auch, dass andere wichtige Themen wenig Berücksichtigung finden – etwa Suchtprävention und Sexualpädagogik. Sobald es möglich ist, sollen diese Themen wieder intensiv aufgegriffen werden.
In unseren suchtpräventiven Angeboten für Kinder und Jugendliche weisen wir immer wieder darauf hin, dass die Entwicklung und Förderung von Lebenskompetenzen eine wichtige Stütze ist, damit Abhängigkeitserkrankungen erst gar nicht entstehen. Die Situation für Kinder und Jugendliche in der Pandemie ist eine schwierige. Sie haben Entwicklungsaufgaben zu bewältigen, die in Zeiten von sozialer Distanz und Beschränkungen einfach nicht möglich sind. Kleine Kinder lernen soziale Beziehungen aufzubauen und mit Emotionen umzugehen. Das ist nur möglich in Interaktion mit anderen sozialen Wesen, besonders mit Gleichaltrigen. Kinder in Volksschulen lernen Empathie, Umgang mit Frustrationen und Stress oder ihre Kommunikationsfähigkeiten auszubauen. All diese Fähigkeiten kann man nicht virtuell im Online-Schooling lernen. Auch hier müssen direkte Kontakte vorhanden sein, um sich selbst zu erleben und im Miteinander zu erproben. Jugendliche haben Entwicklungsaufgaben im Zuge ihrer Identitätsfindung zu erfüllen, sie übernehmen Geschlechterrollen und bauen reife Beziehungen zu Gleichaltrigen auf, sie bereiten sich auf eine Loslösung vom Elternhaus vor. Ob dies im wohlbehüteten Zuhause oder vor dem Hintergrund von familiären Konflikten und Streitigkeiten stattfinden kann, bleibt den Leser*innen selbst zu beurteilen…
Was bedeutet es aus suchtpräventiver Sicht, wenn Lebenskompetenzen nicht ausreichend gefördert werden? Lebenskompetenzen sind zentral für das (psychische) Wohlbefinden jeder*r Einzelnen. Sie sind notwendig für die Entwicklung eines positiven Selbstbildes, um Stress, Konflikte oder Frustrationen zu bewältigen, Beziehungen zu gestalten, Probleme zu lösen, kreativ und kritisch zu denken etc. Kurz und bündig: Lebenskompetenzen helfen bei der Bewältigung von Risikofaktoren. Wenn Risikofaktoren überwiegen und keine geeigneten Möglichkeiten zur Bewältigung zur Verfügung stehen, so ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass unerwünschte Verhaltensweisen zunehmen und/oder Substanzen zur Minderung von Stresssituationen eingesetzt werden.
Die „Corona-Krise“ dauert nun bereits ein Jahr an. Es ist wichtig, dass nicht nur die Vermittlung wissensbasierter Inhalte gefördert wird, sondern dass speziell die emotionale, die psychische und auch die physische Gesundheit der jungen Generation die Aufmerksamkeit erhält, die für ein gesundes Wachsen und Reifen notwendig ist. Richten wir unseren Blick auf das Wohlergehen der Kinder und Jugendlichen und bieten wir Unterstützung an, wenn sie dringend benötigt wird.
Was können wir Erwachsenen tun, um Kinder gut durch Krisen zu begleiten? Informieren Sie sich z.B. bei unserem kostenlosen Online-Elternabend zum Thema „Krisen als Entwicklungschance und Lernfeld“.
Helplines
- Rat auf Draht für Kinder und Jugendliche: 147 (rund um die Uhr). Auch Eltern können unter dieser Nummer Hilfe bekommen, wenn sie in einer Notsituation sind.
- Telefonseelsorge: 142 (rund um die Uhr)
- Bildungsministerium-Hotline bei Fragen zu Schulpflicht, Schulbetrieb, Prüfungen etc.: 0800 21 65 95 (Montag bis Freitag 9–16 Uhr)