Dr. in Martina Kainz, MSc. – eine langjährige Referent*in der Fachstelle NÖ – gab der Wochenzeitung „NÖN“ ein Interview. In dem Gespräch werden unter anderem die Suchtentwicklung in der aktuellen Krise, Diagnosekriterien und Unterstützungsmöglichkeiten für Betroffene und Angehörige thematisiert. Wir dürfen Ihnen nach Absprache dieses Interview auch auf unserer Website präsentieren. Den Original-Artikel finden Sie hier.
NÖN: Sie haben sich in den vergangenen Monaten mit Suchtentwicklung in der Krise beschäftigt. Inwieweit hat sich Suchtverhalten seit Beginn der Pandemie verändert?
Martina Kainz: Das muss man natürlich differenziert betrachten. Wenn man sich zum Beispiel das Thema Alkohol ansieht, gibt es hier eine Studie der Uni Wien vom Juni 2020, wo man feststellte, dass etwa ein Fünftel der Befragten während des Lockdowns weniger getrunken hat als vorher, 15 Prozent etwas mehr und drei Prozent viel mehr getrunken haben. Das heißt, es war sehr unterschiedlich und man sieht deutlich, dass vor allem die Menschen gefährdet sind, die den Alkohol aufgrund seiner Wirkung trinken, etwa um sich zu entspannen oder die Stimmung aufzuhellen. Man nennt das die sogenannten Wirkungstrinker. Zu der Gruppe, die in dieser Krisenzeit weniger trinkt, gehören hingegen eher die Personen, die davor gemütlich mit Freunden oder ein Bier nach der Arbeit getrunken haben. Was man auch feststellte, ist, dass es bei Menschen, die zuvor bereits alkoholkrank waren, vermehrt zu Rückfällen gekommen ist.
Wo sehen Sie die Auslöser für dieses Suchtverhalten?
Kainz: Ein Grund, warum es jetzt in der Krise vermehrt dazu gekommen ist, sind ganz extreme Existenzängste. Viele Menschen sind ökonomisch wirklich am Limit. Arbeitslosigkeit und Kurzarbeit spielen hier eine Rolle. Zudem waren die Isolation und Einsamkeit, die aufgrund der ganzen Maßnahmen entstanden sind, insbesondere für alleinstehende oder ältere Menschen eine große Belastung, die bei manchen dazu geführt hat, dass sie das mit Alkohol kompensieren. Ein weiterer wichtiger Aspekt ist, dass die Leute weniger soziale Kontrolle haben. Personen, die nur mehr im Homeoffice arbeiten, beginnen oft schon zu Mittag mit dem Trinken. Es merkt nun niemand, wenn ich Alkohol trinke. Das kann für manche verführerisch sein, mehr zu trinken, als ihnen guttut.
Gibt es Personengruppen, die derzeit besonders betroffen sind?
Kainz: Die Entwicklung geht quer durch alle Schichten. Wobei es natürlich generell einen Unterschied zwischen Frauen und Männern gibt. So gibt es tendenziell mehr alkoholkranke Männer, die Frauen haben aber ein anderes Konsummuster. Es gibt mehr Frauen, die heimlich trinken und das hat sich nun natürlich auch verschärft. Wobei sich viele Fachleute einig sind, dass wir jetzt nur die Spitze des Eisbergs sehen. Die Langzeitfolgen werden wohl erst nach der Krise wirklich offensichtlich werden, denn Alkoholismus entsteht nicht von heute auf morgen, das braucht relativ lange. Alkohol hat zwar ein hohes Suchtpotenzial, es dauert aber länger als bei Nikotin oder anderen Substanzen.
Sie haben bereits von Alkohol gesprochen. Wie sieht es bei anderen Arten von Sucht aus?
Kainz: Der Nikotinkonsum ist ebenso leicht gestiegen. Bei den illegalen Substanzen ist es derzeit ganz schwer, den Konsum abzuschätzen. Da der Straßenverkauf bei illegalen Substanzen aufgrund der Ausgangssperren und der fehlenden Nachtgastronomie natürlich zurückgegangen ist, laufen hier gerade viele Bestellungen online, also im Darknet ab. Das ist natürlich kaum bis gar nicht zu kontrollieren. Deshalb ist es mit den Zahlen hier ein bisschen schwierig. Bezüglich der nicht substanzgebundenen Abhängigkeiten weiß man, dass vor allem die Onlinespielsucht zugenommen hat, beziehungsweise zumindest die Zeit, die mit Onlinespielen verbracht wird. In einer interessanten Studie der Uni Hamburg wurde festgestellt, dass unter der Woche um 70 Prozent mehr Onlinespiele gespielt wurden, und das ist schon eine Menge.
Die Gefahr einer Onlinesucht ist durch Corona also gestiegen?
Kainz: Ja, das ist sicher. Man konnte feststellen, dass die Gefahr abhängig zu werden und die Zeiten, die online verbracht werden, gestiegen sind. Wobei man einschränkend erwähnen muss, und das gilt auch für die sozialen Netzwerke, wo die Mädchen die Nase vorne haben, dass eine Abhängigkeit jetzt etwa ein bis drei Prozent der Altersgruppe der 14- bis 18-Jährigen betrifft. Um richtig abhängig zu sein müssen wirklich alle Suchtkriterien erfüllt sein. Man muss auch sagen, dass eine pathologische Onlinespiel-Abhängigkeit meist Jugendliche betrifft, die auch sonst irgendein Problem haben, die schon schlecht in der Gruppe integriert sind, vielleicht Angststörungen haben oder Ähnliches. Es gibt hier den Begriff der Komorbidität. Das bedeutet, dass oft aufgrund von psychischen Erkrankungen ein Suchtverhalten entwickelt wird. Psychische Erkrankungen und Sucht kommen also sehr oft im Doppelpack.
Was sind die Anzeichen einer Suchterkrankung?
Kainz: Also selbst merkt man es bald, man gesteht es sich nur nicht ein. Die Umgebung merkt es meist nicht gleich, aber das ist sehr unterschiedlich. Beim Alkohol gibt es Leute, die wirklich jahrelang zu viel trinken und abhängig werden, ohne dass das Umfeld das mitbekommt. Bei onlinespielsüchtigen Jugendlichen merken die Eltern dies auch relativ bald. Die Dauer ist hier jedoch kein Suchtkriterium. Anzeichen sind eher, dass alle anderen Interessen vernachlässigt werden. Meist ist das mit einem Rückzug verbunden. Die Betroffenen verlassen kaum noch ihr Zimmer und ziehen sich auch seelisch zurück. Man kommt schwer an sie heran, sie leben in ihrer Scheinwelt.
Wie kann man Suchtkrankheiten vorbeugen?
Kainz: Es wäre wichtig, zu lernen über seine Ängste und Sorgen zu sprechen und nicht einfach alles hinunterzuschlucken, sondern auch jetzt in der Krise mit Familienmitgliedern oder Freunden zu reden. Außerdem ist es jetzt in der Krise sehr hilfreich, zu versuchen, einen gewissen Teil seines Lebens wieder selbst zu steuern. Das heißt, sich zu überlegen, welche Möglichkeiten man trotz der Einschränkungen hat und den Blick auch auf etwas Positives zu richten.
Hat man bei sich selbst oder einer nahestehenden Person Suchtverhalten bemerkt, wie sollte man handeln?
Kainz: Wenn ich merke, dass ein Problem da ist, ist die oberste Empfehlung, mir professionelle Hilfe zu suchen, sowohl als Angehöriger als auch als Betroffener. Das Aufsuchen einer Suchtberatungsstelle wäre ein erster wichtiger Schritt, wenn das Suchtverhalten bereits ein gewisses Ausmaß angenommen hat und ein merkbarer Leidensdruck da ist.
Wo findet man Hilfe?
Kainz: Die erste Anlaufstelle wäre, wenn man ein vertrauensvolles Verhältnis hat, mit einem Arzt oder einer Ärztin zu sprechen. Dann würde ich die Suchtberatungsstellen der Caritas empfehlen, die es flächendeckend in NÖ gibt, und die wirklich darauf spezialisiert sind. Man erhält dort Beratung, Infos oder auch Therapie und wird, wenn nötig, weiter verwiesen.
Anmerkung der Fachstelle NÖ: Die Suchtberatungsstellen in NÖ werden durch die Caritas, das Anton-Proksch-Institut und durch die PSZ-GmbH betrieben. Kontaktdaten finden Sie unter: https://www.fachstelle.at/beratungsstellen/
Sie haben bis vor Kurzem als Lehrerin unterrichtet. Welche Erfahrungen haben Sie in der Schule mit Suchtverhalten gesammelt?
Kainz: Vereinzelt gab es schon den Verdacht bei Schülern, dass sie exzessiv Computer spielen, wobei ich sagen muss, die Quote war nicht sehr hoch. Ich hatte nicht das Gefühl, dass es bei sehr vielen wirklich pathologische Ausmaße angenommen hat. Was mir in den letzten fünf bis sieben Jahren aufgefallen ist, ist der Umgang mit den sozialen Netzwerken. Bei manchen Mädchen hatte ich das Gefühl, dass sie nicht zehn Minuten auf ihr Handy verzichten hätten können. Nicht, dass sie es im Unterricht andauernd verwendet haben, doch ich hatte schon den Eindruck, dass das Handy sehr wichtig ist und sich da eine gewisse Abhängigkeit entwickeln könnte, und das mit allen Folgeschäden, wenn ich an Instagram und die Schönheitsideale denke. In den letzten Jahren, wo es immer wichtiger wurde, sich dauernd zu präsentieren, verstärkte sich der Druck, einem Ideal entsprechen zu müssen. Man beobachtet wieder einen Zuwachs an Essstörungen und wir haben vermehrt Lehrkräfte, die sich in der Fachstelle NÖ oder in anderen Beratungsstellen melden, da sie anorektische oder bulimische Mädchen in der Klasse haben.
Wie sollten wir alle in Zukunft mit dem Thema umgehen?
Kainz: Es wäre ganz wichtig, dass wir aufhören Suchterkrankungen zu stigmatisieren und auf Suchtkranke herabzuschauen. Sucht ist keine Willensschwäche, sondern eine Erkrankung. Gerade was den Alkohol betrifft, wird sein Suchtpotenzial sehr oft unterschätzt. Manche können zwar ganz gut damit umgehen, aber wenn man über längere Zeit regelmäßig oder zu viel trinkt beziehungsweise den Alkohol als Problemlöser einsetzt, dann besteht ein hohes Risiko, alkoholkrank zu werden.
Quelle:
Koll, A. (2020). Suchtprävention NÖ. NÖN-Interview: „Sucht ist keine Willensschwäche“. Martina Kainz sprach mit der NÖN über verändertes Suchtverhalten in der Krise und die zu starke Stigmatisierung von Kranken. Abgerufen am 18.05.2021, von https://www.noen.at/zwettl/suchtpraevention-noe-noen-interview-sucht-ist-keine-willensschwaeche-bezirk-zwettl-martina-kainz-sucht-coronakrise-print-267190730