Ziel der Sexualpädagogik ist die Vermittlung eines informierten und positiven Zugangs zu Körper, Sexualität und Gefühlen. In der Realität ist aber auch Gewalt in Zusammenhang mit Sexualität ein Thema. In unseren Workshops und Fortbildungen werden wir regelmäßig damit konfrontiert.
Begriffsdefinitionen
Die unterschiedlichen Begriffe für Formen sexualisierter Gewalt machen die Komplexität des Themas deutlich. Oft werden sie synonym verwendet. Sie heben bestimmte Aspekte der Gewalttat hervor und werden kritisch hinterfragt.
Ursula Enders (Enders & Kossatz, 2012) unterscheidet im pädagogischen Alltag zwischen Grenzverletzungen, Übergriffen und strafrechtlich relevanten Formen der Gewalt. Zu letzteren zählen sexuelle Nötigung, sexueller Missbrauch, Vergewaltigung, Herstellung, Handel und Besitz von Missbrauchsdarstellungen von Minderjährigen. Grenzverletzungen sind demnach Verhaltensweisen gegenüber Menschen, die deren persönliche Grenzen im Kontext eines Versorgungs‑, Ausbildungs- oder Betreuungsverhältnisses überschreiten. Sie verletzen die Grenzen zwischen den Generationen, Geschlechtern und/oder einzelnen Personen. Durchgeführt werden Grenzverletzungen sowohl von Erwachsenen als auch unter Gleichaltrigen. Grenzverletzendes Verhalten, das unabsichtlich verübt wird oder aus einer „Kultur der Grenzverletzungen“ heraus resultiert, ist im pädagogischen Alltag nicht ganz zu vermeiden, aber sehr wohl korrigierbar. Darunter versteht man eine unbeabsichtigte Berührung, die Missachtung der Schamgrenzen und sexueller Normen oder kränkende Bemerkungen. Auch ein respektloser Umgang, verbal und/oder mit groben Berührungen (z.B. vermehrt zu beobachten gegenüber auffälligen Burschen, um sie zur Ruhe zu bringen) zählt zu Verhaltensweisen, die häufig als Kultur der Grenzverletzungen zu sehen sind. Durch einen Hinweis darauf aufmerksam gemacht, kann die Person sich entschuldigen und bemühen, das Verhalten zukünftig zu vermeiden. Dazu braucht es in Institutionen eine hohe Sensibilisierung, entsprechende Gruppenregeln, Verantwortung für den Kinderschutz und eine hinreichende Fehlerkultur. Die Bewertung, ob etwas als grenzverletzend erlebt wird, hängt dazu vom subjektiven Erleben der Person ab.
(Sexuelle) Übergriffe unterscheiden sich von Grenzverletzungen dadurch, dass sie nicht zufällig passieren, sondern sich aus persönlichen und/oder fachlichen Defiziten ergeben. Sie sind Ausdruck einer respektlosen Haltung gegenüber Kindern und jungen Erwachsenen – und können als mögliche Hinweise auf eine Kindeswohlgefährdung gesehen werden (Enders & Kossatz, 2012).
Sexuelle Gewalt ist immer dann gegeben, wenn eine erwachsene oder jugendliche Person ein Kind dazu benutzt, eigene sexuelle Bedürfnisse zu befriedigen. Der Erwachsene besitzt gegenüber dem Kind immer eine Machtposition. Es besteht meist ein vertrautes oder abhängiges Verhältnis zwischen den beiden. Das Kind kann der Handlung nicht wissentlich zustimmen (Frei, 1997).
Durch den Einsatz von Medien – gemeinsames Schauen oder Zeigen von pornografischen Bildern, Kontaktaufnahme mit Kindern und Jugendlichen in Chatrooms – sind relativ neue Erscheinungsformen sexueller Gewalt entstanden.
Zahlen, Daten & Fakten sprechen lassen
Erhebungen über Prävalenzen machen deutlich, wie wichtig es ist, über sexuelle Gewalt zu sprechen und Maßnahmen zu setzen, um präventive Arbeit leisten zu können. Die geschlechtervergleichende Prävalenzstudie „Gewalt in der Familie und im nahen sozialen Umfeld“ ist eine großangelegte Erhebung zu Gewalt an Frauen und Männern in Österreich. Erhoben wurde erlebte psychische und physische Gewalt, sexuelle Belästigung und sexuelle Gewalt. Bei den ersten drei Gewaltformen wurde danach gefragt, ob die Gewalt erfahren und ob sie als bedrohlich erlebt wurde. Gewalt ist ein gesellschaftliches Phänomen, von dem nahezu alle Menschen betroffen sind. „Nimmt man die Gewalterfahrungen in der Kindheit aus Sicht der heutigen Erwachsenen dazu, zeigt sich, dass 7,7 % der Männer und 4,9 % der Frauen über keine einzige Gewalterfahrung verfügen, weder in der Kindheit noch im Leben als Erwachsene.“ (Kapella, Rille-Pfeiffer, Geserick, Schmidt, & Schröttle, 2011, S. 60)
Generell erleben Kinder psychische und körperliche Gewalt meist kombiniert – in der Schule oder in der Familie. Geschlechtsspezifische Unterschiede finden sich beim Erleben von sexueller Gewalt in der Kindheit (bis zum Alter von 16 Jahren): Frauen (27,7 %) waren doppelt so häufig sexuellen Übergriffen ausgesetzt wie Männer (12 %). Für die Prävention ist folgendes Ergebnis von Relevanz: Frauen und Männer suchten als Kinder kaum Hilfe und Unterstützung von außen. Wenn Hilfe in Anspruch genommen wurde, dann von Freunden und Familie. Es zeigt sich, dass die befragten Personen umso häufiger Unterstützung gesucht haben, je jünger sie waren (Kapella u.a., 2011, S. 230–231).
Tatsache ist, dass sexuelle Gewalt überwiegend von Personen aus dem familiären bzw. nahen sozialen Umfeld verübt wird. Es handelt sich meist um keine einmaligen Taten, vielmehr können sexuell motivierte Übergriffe bis hin zu Jahren andauern. Eine lange Planung und Vorbereitung geht einem sexuellen Übergriff voraus, unabhängig davon, ob es in der Familie oder in Institutionen passiert. Betroffene können sich aufgrund ihrer körperlichen, geistigen, emotionalen und/oder sozialen Entwicklung nicht wehren, und es besteht ein erhöhtes Risiko zu physischen und psychischen Schädigungen (Verein Selbstlaut, 2014).
Im Teil 2 des Artikels geht es um die Rolle der Prävention.
Der vollständige Artikel ist im „Basiswissen Sexualpädagogik – Einblicke in die beruflichen Handlungsfelder der Sexualpädagogik“ (2018) nachzulesen.
AUTORIN
Enders, U., & Kossatz, Y. (2012). Grenzverletzung, sexueller Übergriff oder sexueller Missbrauch? In U. Enders (Hrsg.), Grenzen achten. Schutz vor sexuellem Missbrauch in Institutionen. Ein Handbuch für die Praxis. (S. 30–53). Köln: Kiepenheuer & Witsch.
Frei, K. (1997). Sexueller Missbrauch. Schutz durch Aufklärung. (3. Aufl.). Ravensburg.
Kapella, O., Rille-Pfeiffer, C., Geserick, C., Schmidt, E.-M., & Schröttle, M. (2011). Gewalt in der Familie und im nahen sozialen Umfeld. Österreichische Prävalenzstudie zur Gewalt an Frauen und Männern. (Österreichisches Institut für Familienforschung (ÖIF), Hrsg.). Abgerufen von https://www.oif.ac.at/fileadmin/OEIF/andere_Publikationen/gewaltpraevalenz_2011.pdf
Verein Selbstlaut (Hrsg.). (2014). Handlung Spiel & Räume. Leitfaden für Pädagoginnen und Pädagogen zum präventiven Handeln gegen sexuelle Gewalt an Kindern und Jugendlichen. Abgerufen von http://selbstlaut.org/wp-content/uploads/2016/11/SL_handlung_spiel_raeume_2014.pdf