Wer ist überhaupt für sexuelle Bildung zuständig?
Der Staat war historisch nicht die einzige – und auch nicht immer wichtigste – Instanz in der Entwicklung der Sexualpädagogik. In den 1970er Jahren waren es vor allem Studierende, Lehrer:innen, politische Bewegungen und die Frauenbewegung, die in den deutschsprachigen Ländern forderten, Sexualpädagogik in der Schule zu unterrichten. Lange Zeit, und teilweise bis heute, nahmen darüber hinaus religiöse Organisationen maßgeblich Einfluss auf sexuelle Bildung. Religiöse Autoritäten sind in vielen Ländern u.a. mit der Bewältigung sexueller Wertfragen und Beziehungsberatung betraut. Im Schulunterricht wurden sexuelle Themen, wenn überhaupt, meist von Religionslehrer:innen aufgegriffen, und Priester waren Ansprechpersonen für gläubige Erwachsene. Daneben waren aber auch Ärzte und Ärztinnen sowie Hebammen wichtige Wissensvermittler:innen. In Österreich bestimmte eine christliche Sicht lange Zeit die Perspektive auf Sexualität und Sexualaufklärung. Seit den 1960er Jahren hat sich die Perspektive um liberale und emanzipatorische Ansätze maßgeblich erweitert.
Medien vermitteln ebenfalls sexuelles Wissen und sind für Jugendliche nicht zuletzt deswegen wichtig, weil ansonsten kaum sexuelle Informationen verfügbar sind, die der jugendlichen Lebenswelt entsprechen. Die Panik vor der negativen Beeinflussung der Jugend durch sexuelles Bildmaterial in den Medien hat dabei eine lange Geschichte: Während Erwachsene früher einen „schlechten Einfluss“ der Jugendromane und Illustrierten und später der Kinofilme und Jugendzeitschriften befürchteten, ist heute das Informationsangebot im Internet und dabei vor allem Pornografie der Hauptgrund pädagogischer Besorgnis. Eine altersgerechte Begleitung der sexuellen Entwicklung erfordert daher auch, sich mit konkurrierenden Informationsangeboten auseinanderzusetzen und an die Lebensrealität von Kindern und Jugendlichen anzuschließen.
War sexuelle Aufklärung ursprünglich vor allem der Familie vorbehalten, begann in den 1960er Jahren Kritik an der mangelhaften Aufklärung der Jugend aufzukommen. Lehrer:innen erschienen zunehmend als die besser geeigneten Sexualpädagog:innen, weil die Eltern das Thema Sexualität oft nicht mit ihren Kindern besprechen wollten. Seit 1970 ist in Österreich ein Erlass in Kraft, der vorschreibt, dass alle Pädagog:innen in allen Unterrichtsfächern altersadäquat mit Kindern (auch) über Sexualität sprechen sollen (Grundsatzerlass Sexualpädagogik 2015). Trotz staatlichem Auftrag unterrichteten Lehrer:innen in der Praxis dieses heikle Thema jedoch oft nicht, beziehungsweise wenn, dann deutlich eingeschränkter, als es der staatliche Auftrag vorsieht. Das ist nicht nur in Österreich ein Problem; auch in vielen anderen Ländern vermeiden Lehrer:innen und Pädagog:innen sexualpädagogische Aufgaben. Die internationale Forschung zeigt dafür zumindest zwei historische Gründe auf (Zimmerman 2015). Einerseits war das kindgerechte Sprechen über Sexualität bei vielen Lehrer:innen nicht Teil ihrer Ausbildung. Andererseits gab es Ängste, dass ihre eigene Sexualität – etwa bei unverheirateten oder homosexuellen Pädagog:innen – kritisch kommentiert würde. In diesem Zusammenhang ist interessant zu wissen, dass 2004 der Diskriminierungsschutz in der österreichischen Arbeitswelt ausgedehnt wurde: Im Job darf niemand aufgrund der sexuellen Orientierung benachteiligt werden. Das gilt natürlich auch für Lehrer:innen. Darüber hinaus hat sich die Akzeptanz sexueller Bildung erhöht und es gibt eine Vielzahl sexualpädagogischer Fortbildungsangebote in Österreich.
Wie wird sexuelle Bildung unterrichtet?
Die international führenden sexualpädagogischen Organisationen haben sich in den letzten Jahren von Wertfragen stark distanziert. Werthaltungen sind sehr unterschiedlich, sowohl bezogen auf Sexualität allgemein als auch auf die Frage, wie sexuelle Bildung aussehen soll (Jones 2011). Es gibt also verschiedene Zugänge zu dem Thema, weshalb sexualpädagogisch tätige Personen ihre eigenen, aber auch gesellschaftliche Werthaltungen kritisch reflektieren müssen (WHO/BZgA 2011, S. 35). Abgesehen von einer klaren Positionierung gegen Zwang, Diskriminierung und Gewalt ist Sexualpädagogik daher respektvoll und offen gegenüber unterschiedlichen sexuellen Werthaltungen. In den letzten Jahren ist vor allem eine „interkulturelle Sexualpädagogik“ zu einem Thema geworden, das in Österreich besonders politisiert ist. Tatsächliche und vermutete Unterschiede zwischen den Werthaltungen in verschiedenen Ländern lenken den Blick nicht nur auf „die Anderen“ – auch innerhalb Österreichs gibt es verschiedene sexuelle „Kulturen“: Die historischen Auseinandersetzungen um eine professionelle Sexualpädagogik in Österreich zeigen, dass sexuelle Werthaltungen sehr unterschiedlich und ein kontroverses Thema sind. Kontroverse Werthaltungen kommen auch regelmäßig auf, wenn es um das noch wenig beachtete Thema „Sexualität und Behinderung“ geht. Einer ganzheitlichen Sexualpädagogik ist es daher ein Anliegen, sich mit unterschiedlichen Werten und diskriminierenden Haltungen auseinanderzusetzen – gemeinsam mit Pädagog:innen, Erwachsenen und Betreuungspersonen, wie auch mit Kindern und Jugendlichen. Die in der Sexualpädagogik angewandten didaktischen Methoden zielen darauf ab, dort anzuschließen, wo die Kinder, Jugendlichen oder Erwachsenen stehen – und das ist je nach Gruppe sehr unterschiedlich. Daher sind Referent:innen flexibel – ein wichtiger Unterschied zu sexualpädagogischen Programmen, die auf die Vermittlung klarer Werte, Verhaltensnormen und Gefahrenbotschaften abzielen.
Die Fachstelle orientiert sich dabei an internationalen Standards einer ganzheitlichen Sexualpädagogik und dem österreichischen Grundsatzerlass, über deren Qualität ein hoher Konsens besteht. Sexualpädagogik definiert sich darin als entwicklungsbegleitende Arbeit an Menschenrechten, Geschlechtergerechtigkeit, Respekt und Anerkennung von Vielfalt und Gesundheitsförderung. Sexuelle Gesundheit ist definiert als
- ein Zustand körperlichen, emotionalen, mentalen und sozialen Wohlbefindens in Bezug auf Sexualität; es ist nicht nur die Abwesenheit von Krankheit, Funktionsstörungen oder Schwäche. Sexuelle Gesundheit erfordert einen positiven und respektvollen Umgang mit Sexualität und sexuellen Beziehungen sowie die Möglichkeit, lustvolle und sichere sexuelle Erfahrungen frei von Zwang, Diskriminierung und Gewalt zu machen. Um sexuelle Gesundheit zu erreichen und zu bewahren, müssen die sexuellen Rechte aller Menschen respektiert, geschützt und realisiert werden (WHO/BZgA 2011, S. 19).
Eine holistische Sexualpädagogik berücksichtigt daher neben Wissen auch Emotionen und Beziehungen, und unterstützt die Entwicklung von Körperkompetenzen im Alltag (Grundsatzerlass 2015). Ein positiver und lustorientierter Zugang zu Sexualität wird mit sexuellen Rechten und wechselseitiger Zustimmung verbunden.
Der vollständige Artikel ist im Basiswissen „Sexualpädagogik – Einblicke in die beruflichen Handlungsfelder der Sexualpädagogik“ (2018) nachzulesen.
Der erste Teil dieses Artikels ist im Jänner 2022 erschienen. Bei Interesse finden Sie den ersten Teil hier.
REFERENTIN
Literaturverzeichnis:
BMBF – Bundesministerium für Bildung und Frauen (2015): Grundsatzerlass Sexualpädagogik. Online unter: https://bildung.bmbwf.gv.at/ministerium/rs/2015_11.pdf?61edq8
Jones, Tiffany (2011): „A sexuality education discourses framework: Conservative, liberal, critical, and postmodern.“ In: American Journal of Sexuality Education 6(2): S. 133–175.
WHO Regional Office for Europe & Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (2011): Standards für die Sexualaufklärung in Europa. Rahmenkonzept für politische Entscheidungsträger, Bildungseinrichtung, Gesundheitsbehörden, Expertinnen und Experten. Köln. Online unter: https://www.bzga-whocc.de/fileadmin/user_upload/WHO_BZgA_Standards_deutsch.pdf
Zimmerman, Jonathan (2015): Too hot to handle: A global history of sex education. Princeton, MA: Princeton University Press.