Sexualität galt lange Zeit als Privatsache. Sexuelle Aufklärung war in erster Linie eine Angelegenheit der Eltern. Heute sind Lehrpersonen an Schulen auch für Sexualpädagogik zuständig. Wie und warum Sexualität Thema in der Schule wurde, lässt sich durch einen Blick in die Geschichte der sexuellen Bildung besser verstehen.
Warum sexuelle Bildung?
In der Erziehung von Kindern findet beiläufig immer auch sexuelles Lernen statt. Innerhalb der letzten 250 Jahre wurde Sexualität jedoch wiederholt ein explizites und wichtiges Thema absichtlicher Erziehungsbemühungen in Europa. Die Gründe, warum Sexualität in der Schule thematisiert wird, haben sich im 20. Jahrhundert stark verändert. Ging es dem Staat anfangs um die Steuerung des Bevölkerungswachstums und um Geburtenkontrolle, wurden Gesundheitserziehung und Sexualität im Kontext von Prostitution, sexueller Ausbeutung und „Rassen“-Lehre während der Weltkriege zentral. Im späteren Verlauf des 20. Jahrhunderts verschoben sich die Motive erneut: Eine geschlechtsdifferenzierte Erziehung zu Mann und Frau und zu „Liebesfähigkeit“ wurde als wichtig angesehen, um die traditionelle Kleinfamilie zu stützen und die Scheidungsrate zu reduzieren. Ab den 1970er Jahren sollten vor allem Teenager-Schwangerschaften und Abtreibungen verhindert werden, ab den 1980er Jahren rückten AIDS-Prävention und Prävention sexueller Gewalt in den Mittelpunkt staatlicher Interessen.
Was ist sexuelle Bildung?
Historisch hat sich nicht nur stark verändert, wer für sexuelle Bildung zuständig ist, sondern auch, was darunter überhaupt verstanden wird. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurde menschliche Sexualität noch kaum im schulischen Kontext besprochen. Es war jedoch durchaus üblich, über die Fortpflanzung von Pflanzen und Tieren zu sprechen – in der Hoffnung, die Kinder würden daraus schon ihre eigenen Schlüsse ziehen. Außerdem wurde angenommen, dass es für Kinder besser sei, wenn ihre Neugier nicht „geweckt“ würde und Fragen unbeantwortet blieben, um ein frühzeitiges Erwachen der Sexualität und einen etwaigen Schaden zu vermeiden. Diese Sicht wird von Sexualpädagog*innen bereits seit vielen Jahren nicht mehr vertreten: Kinder werden durch externe Einflüsse nicht ursprünglich „sexualisiert“, sondern sie sind von Geburt an sexuelle Wesen, die in ihrer Entwicklung – auch ihrer sexuellen Entwicklung – begleitet werden müssen. Sie haben ein Recht auf Informationen und sexualpädagogische Begleitung von frühester Kindheit an, und wissenschaftliche Forschungen zeigen, dass sexuelle Bildung sexuelle Aktivitäten von Kindern nicht negativ beeinflusst (WHO/BZgA 2011, S. 24). In vielen europäischen Ländern orientiert sich das schulische Angebot deshalb an einer sogenannten „holistischen Sexualpädagogik“, die Menschen ganzheitlich in ihrer sexuellen Entwicklung begleitet (WHO/BZgA 2011).
Trotz der medial verbreiteten Sexualisierung von jugendlichen Frauenkörpern war das Sprechen über die Sexualität von Frauen lange Zeit viel stärker tabuisiert als die Sexualität von Männern. Bereits 1988 wurde in einem international viel beachteten Forschungsartikel von Michelle Fine kritisiert, dass Mädchen im sexualpädagogischen Unterricht zwar als Opfer adressiert wurden, weibliches Begehren jedoch nicht thematisiert wurde. In Unterrichtsmaterialien wurden außerdem die weiblichen Geschlechtsorgane oft nicht korrekt dargestellt und benannt. Dazu kam, dass sexuelle Orientierungen wie etwa Homosexualität als abweichendes Verhalten charakterisiert und historisch oft in einem Atemzug mit Inzest oder Pädophilie thematisiert wurden. Erst in den letzten Jahren wurden die Vielgestaltigkeit biologischer und sozialer Geschlechtlichkeit (mehr als zwei Geschlechter) sowie sexueller Orientierungen und Begehren (Sexualitäten in der Mehrzahl) zum allgemeinen sexualpädagogischen Wissen.
Generell wurden Sexualität, sexuelles Begehren und Pubertät lange Zeit nur als „Risiko“ und „Gefahr“ gesehen: Es drohten Geschlechtskrankheiten, ungewollte Elternschaft oder sexuelle Gewalt. Sexualpädagogik wollte hier durch Information und Aufklärung Abhilfe schaffen. Die Bedrohungen sollten die einzelnen Jugendlichen für sich zu meistern lernen. Das „Risikomanagement“ bestand vor allem darin, an Jugendliche zu appellieren, Sexualität zu einer „wohlüberlegten autonomen Entscheidung“ zu machen. Das emotionslose Entscheidungsverhalten im Trockentraining hatte jedoch oft wenig mit der Realität sexueller Erfahrungen zu tun. Auch ungleiche soziale Bedingungen sexueller Entscheidungs- und Handlungsmacht wurden dabei nicht berücksichtigt: Sozial einflussreiche Personen können sich der Sexualität oder auch der Beschämung bedienen, um Macht auszuüben – und sozial benachteiligte Personengruppen sind dafür besonders verletzlich.
Die Forschung zeigt demgegenüber, dass sexuelle Risiken nur sinnvoll zu reduzieren sind, wenn offen auch über Emotionen wie Lust und Begehren, Ängste und Scham gesprochen werden kann (Fine 1988; IPPF 2016, S. 9). Um für mehr Menschen mehr sexuelle Selbstbestimmung zu verwirklichen, müssen auch die sozialen und kulturellen Bedingungen sexueller Selbstbestimmung gefördert werden (Fields et al. 2015; WHO/BZgA 2011). Sexualpädagogik muss daher Benachteiligung und soziale Hierarchien berücksichtigen – etwa zwischen Jugendlichen mit unterschiedlichem Begehren, sozialem oder biologischem Geschlecht und sozioökonomischen Ressourcen genauso wie mit unterschiedlicher Religion, Hautfarbe oder Sprache sowie mit Behinderungen. Sexuelle Bildung hat im 21. Jahrhundert deshalb – neben den sexologischen und pädagogischen Grundlagen – sowohl einen psychologischen als auch einen gesellschaftswissenschaftlichen Hintergrund.
Sie hat sich von der Risikoprävention und den früheren Gefahrenbotschaften wegentwickelt und versteht sich heute als Begleitung der sexuellen Entwicklung. Sexuelle Bildung bezieht sich damit auf den ganzen Lebenslauf, wobei Sexualpädagogik in Schulen davon nur ein Teil ist.
Der vollständige Artikel ist im „Basiswissen Sexualpädagogik – Einblicke in die beruflichen Handlungsfelder der Sexualpädagogik“ (2018) nachzulesen.
REFERENTIN
Literaturverzeichnis:
Fields, Jessica / Gilbert, Jen / Miller, Michelle (2015): „Sexuality and Education: Toward the Promise of Ambiguity.“ In: DeLamater, John / Plante, Rebecca (Hg.): Handbook of the Sociology of Sexualities. Springer, S. 371–387.
IPPF International Planned Parenthood Federation (2016): Everyone’s Right to Know: Delivering Comprehensive Sexuality Education for All Young People. London.
Michelle Fine (1988) Sexuality, Schooling, ans Adolescent Females: TheMissing Discourse of Desire. Harvard Educational Review: April 1988, Vol. 58, No, 1, pp. 29–54.
WHO Regional Office for Europe & Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (2011): Standards für die Sexualaufklärung in Europa. Rahmenkonzept für politische Entscheidungsträger, Bildungseinrichtung, Gesundheitsbehörden, Expertinnen und Experten. Köln. Online unter: https://www.bzga-whocc.de/fileadmin/user_upload/WHO_BZgA_Standards_deutsch.pdf