Geh nicht mit Fremden mit.
Und wenn es gar kein Fremder ist?
Über sexuellen Missbrauch nachzudenken, kann mit unangenehmen Gefühlen verbunden sein. Am liebsten möchte man sich dem Thema gar nicht stellen. Genau an dieser Stelle setzt die, unserer Meinung nach, sehr gelungene deutsche Kampagne „Schieb den Gedanken nicht weg“ an: Gewaltschutz und Kinderschutz gehören in unserer Gesellschaft enttabuisiert.
Vorausgegangen ist der Kampagne eine repräsentative Forsa-Umfrage an Erwachsenen in Deutschland. Diese beschäftigte sich damit, wie der Wissensstand sowie der Informationsbedarf zum Thema „sexueller Missbrauch an Kindern und Jugendlichen“ ist.
Wo beginnt sexualisierte Gewalt?
Jede sexuelle Handlung, die gegen den Willen an oder vor einem Kind oder Jugendlichen vorgenommen wird, ist sexualisierte Gewalt. Dies trifft ebenso zu, wenn Jugendliche nicht wissentlich zustimmen können, da sie körperlich, seelisch, geistig oder sprachlich unterlegen sind, bzw. wenn ein Machtverhältnis zwischen den Beteiligen besteht. Unmündige Minderjährige unter 14 Jahren können sexuellen Handlungen grundsätzlich nicht zustimmen, weil der Stand ihrer Entwicklung sexuelle Selbstbestimmung noch ausschließt.
Sexualisierte Gewalt ist immer ein Angriff auf die psychische und körperliche Integrität von Kindern und Jugendlichen, und sie erschüttert deren Grundvertrauen. Dies ist unabhängig sowohl von der Schwere der Handlungen als auch von der Frage, ob diese online oder offline geschehen. Sexualisierte Gewalt beginnt, wenn und wie auch immer jemand bewusst und absichtlich die körperlichen und sexuellen Grenzen eines Kindes oder einer*s Jugendlichen missachtet und überschreitet.
Formen von sexualisierter Gewalt
Die Komplexität des Themas zeigt sich darin, dass es unterschiedliche Begriffe für sexualisierte Gewalt gibt, wie „sexuelle Gewalt“ oder „sexueller Missbrauch“. Sexualisierte Gewalt umfasst unterschiedliche Handlungen, die sich auch in ihrer Schwere unterscheiden. Viele – aber nicht alle – dieser Handlungen sind strafbar:
- verbale, anzügliche oder mehrdeutige Bemerkungen oder Nachrichten
- voyeuristisches Betrachten und Starren auf den Intimbereich
- sexualisierte Gesten oder Geräusche
- konkrete Handlungen wie Zungenküsse, Betasten der Geschlechtsteile
- exhibitionistische Handlungen
- gezieltes Zeigen von pornografischen Abbildungen
- Erzwingen von sexuellen Handlungen
- Eindringen in Körperöffnungen
Mach niemanden die Tür auf! – Und wenn die Gefahr schon drinnen ist?
Wo sexueller Missbrauch stattfindet.
Sexueller Missbrauch findet vorwiegend im näheren Umfeld von Kindern und Jugendlichen statt, also in der Familie, in Betreuungs- oder Sporteinrichtungen oder ähnlichem.
An dieser Stelle wird in der bereits erwähnten Forsa-Umfrage ein deutlicher Widerspruch sichtbar: So halten zwar 90% der Befragten die Wahrscheinlichkeit für sehr hoch, dass sexualisierte Gewalt im familiären Umfeld stattfindet, jedoch halten es gleichzeitig 85% für unwahrscheinlich oder ausgeschlossen, dass dies in der eigenen Familie passiert bzw. auch passieren kann.
Und genau deshalb trifft die Kampagne „Schieb den Gedanken nicht weg“ mit ihren Slogans punktgenau ins Schwarze:
Geh nicht mit Fremden mit. Und wenn es gar kein Fremder ist?
Mach niemanden die Tür auf. Und wenn die Gefahr schon drinnen ist?
Denn Prävention beginnt genau da: den Gedanken an die Möglichkeit sexualisierter Gewalt zuzulassen.
Aktuelle Diskussionen zum Thema Kinderschutz in Österreich
Auch in Österreich ist der Schutz von Kindern vor Gewalt und Missbrauch gerade wieder in den Fokus gerückt. Das von der Regierung geplante Maßnahmenpaket sieht neben der Verschärfung des Strafausmaßes sowie der Aufstockung der finanziellen Mittel für Opferhilfe vor allem auch den Ausbau der Präventionsarbeit vor.
Sexualpädagogik ist ein Bestandteil dieser Präventionsarbeit. Eine präventive Wirkung wird vor allem auf der strukturellen Ebene erzielt. Es ist Aufgabe von Erwachsenen, Bildungseinrichtungen und Politik, sich mit zielführenden Präventionsmaßnahmen auseinander zu setzen. Es ist unzureichend, sich mit Programmen lediglich an Kinder und Jugendliche zu wenden. Diese können die Verantwortung für Prävention sowie für das Aufdecken und Beenden von sexualisierter Gewalt nicht übernehmen. Um Betroffene aufzufangen und zu halten, ist ein Netzwerk zuständig – und das beginnt mit Erwachsenen, die sensibel und aufmerksam auf die Verhaltensweisen und Erzählungen von Kindern und Jugendlichen reagieren und diese Ernst nehmen; Erwachsenen, welche die Möglichkeit in Betracht ziehen, dass sexualisierte Gewalt stattfinden könnte. – Ganz im Sinne von: Schieb den Gedanken nicht weg.
Quellen sowie weiterführende Informationen:
https://nicht-wegschieben.hilfe-portal-missbrauch.de/
FORSA-Umfrage Oktober 2021 (PDF)