Übermäßiger Alkoholkonsum dient manchen als Strategie der Krisenbewältigung, kann aber auch Krisen auslösen und bereits bestehende verschärfen. Die Erkenntnis, wie schädlich Alkoholmissbrauch sowohl für das soziale Zusammenleben als auch für die psychische Befindlichkeit der Betroffenen bzw. deren Angehörigen einzustufen ist, hat sich bei vielen Menschen kaum durchgesetzt. Doch es gibt mittlerweile auch immer mehr gesellschaftspolitische Maßnahmen um Betroffene und Angehörige zu unterstützen.
Forschungen zum Alkoholkonsum während der COVID-19-Pandemie zeigen keine einheitlichen Ergebnisse: Während viele Menschen angaben, weniger getrunken zu haben als zuvor, berichteten wieder andere vom Entgleisen ihrer Trinkgewohnheiten vor allem während der Lockdown-Phasen. Ab wann aber ist Alkoholkonsum als problematisch einzustufen und wohin können sich Betroffene sowie deren Angehörige wenden?
Insbesondere in den Lockdowns 2020 und 2021 zeigten sich veränderte Trinkmuster insofern, als viele Menschen, die vor der Pandemie eher in der Gastronomie bzw. im Freundeskreis gelegentlich Alkohol konsumiert hatten, ihren Konsum in dieser Phase reduzierten. Dennoch gab es auch den gegenteiligen Trend: Fast ein Viertel der Studienteilnehmer*innen gab an, „etwas mehr“ oder sogar „viel mehr“ Alkohol zu trinken als vor der Krise.
Alkohol dient also manchen Menschen nicht nur als ein – meist wenig erfolgreicher – Versuch der Krisenbewältigung, sondern steht auch oft am Beginn bzw. gilt als Auslöser einer krisenhaften Entwicklung, sei es im persönlichen Bereich, innerfamiliär, gesellschaftlich oder auf gesundheitlicher Ebene. Die Daten und Fakten dazu sind medial unterrepräsentiert, sprechen aber für sich: Laut WHO sterben jährlich etwa drei Millionen Menschen aufgrund ihres Alkoholkonsums, etwa 200 Krankheiten werden durch übermäßigen Alkoholkonsum ausgelöst oder verschlechtert. Dazu zählen neben den allgemein bekannten Schäden wie Lebererkrankungen und Erkrankungen des Gehirns und Nervensystems auch viele Krebserkrankungen sowie psychische Beeinträchtigungen, allen voran Depressionen.
Suizidrisiko steigt bei Alkoholmissbrauch bzw. Abhängigkeit
Wie sehr übermäßiger Alkoholkonsum als Krisenbeschleuniger wirken kann, zeigt sich auch in dem Faktum, dass nach Depression Alkoholabhängigkeit die zweithäufigste psychische Erkrankung bei Suizidopfern ist. Es steigt das Risiko eines Suizids mit der Dauer und dem Schweregrad der Abhängigkeit. Vor allem aber steigert die unmittelbare Wirkung von Alkohol (Enthemmung) nicht nur das Risiko für Gewaltausübung gegen andere Personen, sondern erhöht auch die Wahrscheinlichkeit für die Durchführung eines Suizids.
Insgesamt ist die Suizidrate bei Alkoholkranken um das Sechsfache erhöht im Vergleich zur Gesamtbevölkerung. Auch hier gibt es geschlechtsspezifische Unterschiede, da alkoholabhängige Frauen allgemein ein höheres Suizidrisiko aufweisen als alkoholabhängige Männer: „Frauen haben laut der Analyse im Rahmen einer stationären Behandlung wegen ihrer Alkoholabhängigkeit ein etwa 16‐fach erhöhtes Suizidrisiko im Vergleich zu Frauen in der Allgemeinbevölkerung, während bei Männern das entsprechende Verhältnis neun zu eins beträgt.“
Folgewirkungen des Alkohols oft unterschätzt
Es gibt noch eine ganze Reihe von Krisen, die durch Alkoholkonsum von Familienmitgliedern, Kolleg*innen oder Bekannten ausgelöst oder verschärft werden und mit Unfällen, Gewalterfahrungen, Traumatisierungen oder diversen Übergriffen einhergehen können. Besonders belastet sind Kinder, die unter derartigen Umständen in einer Dauerkrise aufwachsen müssen und deren strukturelle Benachteiligung oft lebenslange Spuren hinterlässt. Außerdem kommen oft auch völlig Unbeteiligte durch den Alkoholkonsum anderer zu Schaden, beispielsweise bei Verkehrsunfällen, wie aus der deutschen Studie „Belastungen Dritter durch alkoholbedingte Schäden“ (2016) hervorgeht.
Die Problematik und der Grad an Schädlichkeit von Alkohol werden oft deshalb unterschätzt, weil wenig Wissen darüber herrscht, wie variantenreich bzw. bisweilen auch individuell schwer einschätzbar die Wirkung des Alkohols auf das Gehirn im Vergleich zu anderen Drogen ist. Der englische Forscher David Nutt, der mehrere Jahre lang Drogenberater der britischen Regierung war, zeigte in seinen Forschungsarbeiten, welche Substanzen für die Betroffenen und die Gesellschaft insgesamt die meisten Schäden anrichten, indem er die negativen Auswirkungen anhand einer Skala kategorisierte. Die Gesamtbilanz ist klar: Alkohol ist – im Vergleich zu allen anderen Substanzen und unter Berücksichtigung aller Wirkungsbereiche – als gefährlichste bzw. schädlichste Droge einzustufen.
Was also wäre zu tun?
Warum sich viele Staaten und Regierungen – trotz des hohen Ausmaßes an Kosten, die durch übermäßigen Alkoholkonsum entstehen – der Substanz Alkohol gegenüber so tolerant verhalten, ist schwierig zu beantworten. Doch nicht nur Regierungen sollten sich der gesellschaftspolitischen Verantwortung, die sie tragen bewusst sein, sondern auch Medien. Insbesondere Sendungen oder Berichte über Society-Ereignisse (z.B. in der Sendung „Seitenblicke“) sind kaum ohne Wein, Sekt oder Bier als unverzichtbare Symbole des Feierns konzipiert und rücken diese Getränke oft noch zusätzlich in den Fokus.
Folgende gesellschaftspolitische Maßnahmen könnten helfen, einen verantwortungsvolleren Umgang mit der Substanz Alkohol zu fördern und Betroffene bzw. deren Angehörige besser zu unterstützen:
- Das Bewusstsein über das Risiko des Alkoholkonsums schärfen
- Enttabuisierung von Suchterkrankungen
- Flächendeckende Suchtpräventions-Programme in Schulen und in der Ausbildung der Lehrkräfte
- Ausbau der betrieblichen Suchtprävention
- Frühzeitige Interventionen bei beginnender Alkoholabhängigkeit
- Bessere Unterstützung von Angehörigen
- Richtlinien für eine verantwortungsvolle Medienberichterstattung entwickeln
- Werbemöglichkeiten für Alkohol bzw. alkoholische Getränke stärker beschränken
Ebenso hat jede*r Einzelne – als Betroffene*r oder Angehörige*r – Möglichkeiten, mit dem Thema Alkohol bewusst umzugehen, es anzusprechen, den Konsum zu reduzieren und beispielsweise alternative Strategien der Stressbewältigung zu entwickeln. Auch im fortgeschrittenen Stadium gibt es immer die Möglichkeit, Beratungsstellen, Hausärzt*innen oder Fachärzt*innen aufzusuchen und das Problem in Angriff zu nehmen.
Die Österreichische Dialogwoche Alkohol soll dazu beitragen, einem adäquaten Umgang mit Alkohol durch Informationsvermittlung und Enttabuisierung des Themas Alkohol, durch das Aufzeigen von Risiken, aber auch von Unterstützungs- und Therapieangeboten einen Schritt näher zu kommen. Machen auch Sie mit!
Möchten Sie weiterlesen? Hier geht es zum ersten Teil der Artikelreihe.
AUTORIN
Anton-Proksch-Institut in Wien. Informationen zum Thema Alkoholsucht und deren Therapie. Verfügbar unter: https://www.api.or.at/sucht-abhaengigkeit/alkoholsucht/
Biringer, Eva (2022): Unabhängig. Vom Trinken und Loslassen. HarperCollins. Hamburg.
Bourdieu, Pierre (1990): La domination masculine. In: Actes de la recherche en sciences sociales. Vol. 84, septembre 1990. Masculin/féminin‑2. pp. 2–31. Verfügbar unter: https://www.persee.fr/doc/arss_0335-5322_1990_num_84_1_2947
Brühl, Jannis (2015): Saufen und Glück. Streitgespräch zwischen Robert Pfaller und Daniel Schreiber. Kölner Philosophie-Festival 2015. In: Süddeutsche Zeitung (03.06.2015). Verfügbar unter: https://www.sueddeutsche.de/kultur/koelner-philosophiefestival-saufen-und-glueck‑1.2505366
Bundesministerium für Gesundheit Deutschland (2016): Kurzbericht – Belastung Dritter durch alkoholbedingte Schäden. Verfügbar unter: https://www.bundesgesundheitsministerium.de/fileadmin/Dateien/5_Publikationen/Drogen_und_Sucht/Berichte/Kurzbericht_Schaeden_fuer_Dritte_durch_Alkohol.pdf
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Dialogwoche Alkohol (Österreichischen ARGE Suchtvorbeugung in Kooperation mit dem Dachverband der Sozialversicherungsträger und der Gesundheit Österreich GmbH.). Materialien zum Thema Alkoholkonsum in Österreich. Verfügbar unter: https://www.dialogwoche-alkohol.at/wissen/zahlen-fakten/
Dialogwoche Alkohol. Alkohol in Krisenzeiten. Factsheet. Verfügbar unter: https://www.dialogwoche-alkohol.at/alkohol-in-krisenzeiten/
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Weitere Quellen:
“Der globale Rausch” (2019) – Dokumentarfilm von Andreas Pichler. Mit David Nutt, Raphael Gaßmann, Harvey Milkman und Lorenz Gallmetzer.
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ARTE-Dokumentation „Gehirn unter Drogen“. Verfügbar unter: https://www.youtube.com/watch?v=ZbduyE9gfz0
Online-Vortrag des Vereins Dialog vom 09.05.2022 „Ein Glaserl zu viel – Wenn der Konsum entgleist“.